No.1–No.36

Mit der col­la­gen­ar­ti­gen Dar­stel­lung des abs­trak­ten Begrif­fes Zeit in einer abge­schlos­se­nen Serie von chro­no­lo­gi­schen Reli­ef­ab­bil­dun­gen beschäf­tigt sich der Künst­ler Gerd Pflei­de­rer. Als Objek­te sei­ner Gestal­tungs­ar­beit ver­wen­det Pflei­de­rer Relik­te und Über­bleib­sel aus dem Leben von Men­schen und per­sön­li­che Gegen­stän­de, die für den ein­zel­nen einen beson­de­ren Wert haben, aber nach dem Ver­schwin­den der Bezugs­per­son voll­kom­men wert­los zu sein schei­nen. Pflei­de­rer ver­wen­det bei­spiels­wei­se Zei­tungs­aus­schnit­te mit Todes oder Hei­rats­an­zei­gen als Mei­len­stei­ne des Begrif­fes Zeit im Ver­hält­nis zum Leben, denn gera­de der Beginn und Ende haben für den Künst­ler eine beson­de­re Relevanz.

Die teil­wei­se in Braun- und Grau­tö­nen aus­ge­führ­te Hin­ter­grund­be­ma­lung illus­triert die Ver­gäng­lich­keit des mensch­li­chen Indi­vi­du­ums, das im Ver­hält­nis zum abso­lu­ten, fast unend­li­chen Zeit­be­griff ver­schwin­dend gering wird. Dies kommt in sei­nen Wer­ken sehr genau zum Aus­druck: Teil­wei­se hat er sehr per­so­nen­be­zo­gen gear­bei­tet, indem er per­sön­li­che Din­ge des täg­li­chen Gebrauchs in einer Col­la­ge des Lebens zusam­men­ge­bracht hat. Hier­für ver­wen­de­te er teil­wei­se auf dem Floh­markt ange­kauf­te alte Schach­teln mit schein­bar wert­lo­sen Brie­fen. Doch beim inten­si­ven Beschäf­ti­gen mit den Objek­ten erschloss sich für den Künst­ler eine eige­ne Rea­li­tät, die aus sei­ner Phan­ta­sie ent­stan­den ist und aus sei­ner Sicht eine mög­li­che rela­ti­ve Wahr­heit wird. Aller­dings sind sei­ne Ver­sinn­bild­li­chun­gen recht abs­trakt und inter­pre­ta­ti­ons­be­dürf­tig gehal­ten, nicht nur um das Inter­es­se des Betrach­ters zu wecken, son­dern auch um zur Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Asso­zia­ti­ons­feld des Wor­tes Zeit und Leben anzuregen. 

Nicht zuletzt des­halb hei­ßen sei­ne Seri­en „Zeit­räu­me“, da die Zeit nicht ein ein­di­men­sio­na­ler Begriff ist, son­dern auch viel mit kul­tu­rel­lem Hin­ter­grund und Lebens­phi­lo­so­phie zu tun hat. Inso­fern ist eine zuneh­men­de Kom­ple­xie­rung der Bil­der fest­stell­bar, die sich in reli­ef­ar­ti­gen Umstruk­tu­rie­run­gen mit teil­wei­se har­ten Zäsu­ren äußert. Als Gestal­tungs­ele­men­te tau­chen neben Relik­ten wie Brie­fen und Zei­tungs­ab­schnit­ten auch Din­ge des täg­li­chen Gebrauchs wie Notitz­zet­tel, Ziga­ret­ten­schach­teln und Bruch­stü­cke von Gegen­stän­den  auf. Aller­dings nie voll­stän­dig, son­dern als Frag­men­te eines Lebens, das nur noch in Res­ten nach­emp­fun­den wer­den kann. Es ist die Auf­ga­be des Betrach­ters, die Bruch­stü­cke zu einem Gesamt­bild zu inte­grie­ren. Sein Freund Tho­mas Röß­ler nennt die Dar­stel­lungs­form eine „indi­vi­du­el­le, sub­jek­ti­ve Erfah­rung von his­to­ri­schen Objek­ten“, die jedoch kei­ne inhalt­li­che Fest­le­gung oder Wer­tung vor­neh­men sol­le. Wich­tig ist für den Künst­ler die Sinn­lich­keit in der Dar­stel­lung von Geschich­te, die bei der blo­ßen Fak­ten­auf­lis­tung abso­lut zu kurz kommt. Dadurch kann eine viel näher­ge­hen­de affek­ti­ve Erfah­rung mit der his­to­ri­schen Wahr­heit erfol­gen, hier kommt für Röß­ler der Zusam­men­hang von Kunst und Ästhe­tik ins Spiel. Die Rea­li­en mit der Aura des Authen­ti­schen kön­nen viel bes­ser die sub­jek­ti­ve Erfah­rung mit Geschich­te ver­mit­teln“, erläu­ter­te der Refe­rent die Mei­nung Pflei­de­rers zum Umgang mit dem Begriff der his­to­ri­schen Wahr­heit. Denn das Ein­zel­er­leb­nis unter­schei­de sich sehr wesent­lich vom Kol­lek­ti­v­e­reig­nis auch aus his­to­ri­scher Sicht, wie er am Bei­spiel des Ende des letz­ten Welt­kriegs ver­deut­lich­te. Die Ent­zer­rung von Fak­ten­fül­le und unper­sön­li­cher Abs­tra­hie­rung von mensch­li­chen Erfah­ren von Leben und Tod schei­nen ihm eben­falls ein wich­ti­ges Anlie­gen zu sein.

VIERNHEIMER TAGEBLATT, 19. Mai 1993