Zeit-Raum 3

Ehem. Tabak­fa­brik, Heidelberg/Edingen, 1993

Die tra­di­tio­nel­le bil­den­de Kunst, sprich Male­rei und Bild­haue­rei, sieht sich seit eh’ und je mit einer Fra­ge kon­fron­tiert, die Lite­ra­ten und Musi­kern fremd ist: Mit dem Pro­blem der Dar­stel­lung von Bewe­gung, von Hand­lung, von Pro­zes­sen und damit eng zusam­men­hän­gend mit der Fra­ge der Dar­stel­lung von Zeit eines Phä­no­mens, das zwar emp­find­bar, aber visu­ell nicht erfass­bar ist. Im Gegen­satz zu den zeit­li­chen Medi­en Musik, Spra­che und Thea­ter sind die Male­rei und Bild­haue­rei auf­grund des sta­ti­schen= punkt­zeit­li­chen Cha­rak­ters des Bil­des bzw. der Plas­tik dazu ver­ur­teilt, sich auf die Dar­stel­lung von Zustän­den, Augen­bli­cken oder Zeit­punk­ten zu beschrän­ken; das heißt, Male­rei und Bild­haue­rei kön­nen bes­ten­falls die Illu­si­on von Bewe­gung her­vor­ru­fen und über sie die Vor­stel­lung von Zeit und Zeitverlauf..

Wie man am bes­ten mit der Zeit als Bil­den­der Künst­ler fer­tig wird und zudem noch in einem Auf­wasch die ver­flos­se­ne Gelieb­te ver­ges­sen kann, zeigt der sur­rea­lis­ti­sche Künst­ler Man Ray in sei­nem Objekt mit dem viel­sa­gen­den Titel: GEGENSTAND DER ZERSTÖRUNG. Man Ray gibt in einem Begleit­text eine exak­te Gebrauchsanweisung.“Schneide das Auge aus der Pho­to­gra­phie eines Men­schen, den du liebst, der dich aber ver­las­sen hat. Brin­ge es an das Pen­del eines Metro­noms an und regu­lie­re das Gewicht ent­spre­chend dem gewünsch­ten Tem­po. Ver­su­che, mit einem ein­zi­gen, wohl­ge­ziel­ten Ham­mer­schlag den Gegen­stand zu zer­stö­ren”. Jen­seits der aktio­nis­ti­schen und mar­tia­li­schen Destruk­ti­on im Sin­ne eines Hap­pe­nings ergibt sich fol­gen­de Kon­stel­la­ti­on: Das Metro­nom steht für die ver­ge­hen­de Zeit, die Pho­to­gra­phie für den Augen-Blick und die Erin­ne­rung an die gelieb­te Per­son, die bewuss­te Zer­stö­rung steht für den Ver­such, die Zeit aus­zu­lö­schen, zu til­gen, in einer Art Epi­pha­nie des Bösen, die ver­bun­den ist mit einer Spren­gung der Zeit­ma­ße im Augen­blick des Schreckens.

For­ma­le Ähn­lich­keit mit der Pen­del­be­we­gung des Metro­noms bei Man Ray, besitzt bei Pflei­de­rers Raum­in­sze­nie­rung das schau­keln­de nack­te Mäd­chen. Nur sym­bo­li­siert bei Pflei­de­rer die Pen­del­be­we­gung der Schau­kel das Unver­mö­gen des Men­schen Zeit und somit Jugend und Schön­heit zu kon­ser­vie­ren. Im Raum befin­den sich noch eine Serie von Erin­ne­rungs­kis­ten von denen die Nr. 37–41 gezeigt wird. Über ein Ton­band hört man den Herz­schlag eines Men­schen, außer­dem Geflüs­ter von mensch­li­chen Stim­men. Die Erin­ne­rungs­kis­ten und ‑kof­fer krei­sen um die Moti­ve Sehn­sucht, Ich, Du, Tod und die magi­sche For­mel e = mc’; sie sind mit Fund­stü­cken arran­giert, die vor allem durch die Abnut­zung Geschich­ten erzäh­len. Man fin­det zer­zaus­te Kuschel­tie­re, alte Brie­fe, ver­gilb­te Pho­tos, Kalen­der­blät­ter. Schmutz und Far­be ver­frem­den die Gegen­stän­de in dem Sinn, dass das Objekt unkla­re Gren­zen, eine unkla­re Iden­ti­tät und pro­ble­ma­ti­sche Form ent­wi­ckelt, die meist als Abwei­chung und Reduk­ti­on gegen­über einem funk­tio­na­len, iden­ti­schen und sau­be­ren Gegen­stands­mo­dell erscheint. 
Die Insze­nie­rung ist die Evo­ka­ti­on eines zeit­lo­sen, nicht geschichts­be­zo­ge­nen Desas­ters und hält ein Moment des Ver­sin­kens und des Ent­fer­nens fest. Pflei­de­rer zeigt die prä­mor­phen For­men des Gewe­se­nen, will aber gleich­zei­tig ver­ber­gen, bewah­ren, das Zer­fal­len­de befes­ti­gen. Die Käs­ten sind Grat­wan­de­run­gen: Her­me­tisch Ver­schlos­se­nes steht neben ver­let­zen­der Ent­blö­ßung, dem Auf­de­cken ant­wor­tet das über­de­cken. Das Her­stel­len wird mit dem Zer­stö­ren gekop­pelt. Obwohl die Objek­te Spu­ren von Men­schen dar­stel­len, hat das Ich in die­ser Welt kei­nen Platz mehr. In einer Kis­te sieht man eine unend­li­che Spie­ge­lung, indem das Ich ego­zen­trisch um sich selbst kreist und in der Unend­lich­keit der Zeit kei­nen Platz mehr fin­det. Obgleich die Insze­nie­rung eher eine Ästhe­tik des “Danach” dar­stellt, zeu­gen die Objek­te von statt­ge­fun­de­ner Kommunikation.

Wer­ner Marx

Pho­tos der Aus­stel­lung: Gerd Pflei­de­rer
Schau­kel­per­for­mance: Eva Newman